Ein Klugscheißer macht Urlaub


eine sommerliche Kurzgeschichte


»Herzlich willkommen beim ProTrend-Kundenservice. Mein Name ist Timo Seidel. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«, leiere ich bestimmt zum fünfzigsten Mal an diesem Vormittag in mein Headset. Vor einem Jahr ging mir dieser Satz auch noch weitaus freundlicher über die Lippen.
»Mal sehen, ob Sie mir überhaupt weiterhelfen können!«, schnauzt mich sodann eine männliche Stimme an. »Hoffentlich sind Sie nicht genauso inkompetent wie Ihre dämliche Kollegin! Die hat mir nämlich nur blöde Fragen gestellt und konnte mir dann doch nicht weiterhelfen!«
Prima! Wieder ein schlecht gelaunter Kunde, der meint, seine Laune an mir auslassen zu müssen. Irgendetwas scheint gegenwärtig in der Luft zu liegen, das die Menschen unerträglich werden lässt. Wahrscheinlich ist es die Hitze!
Aber heute kann mir das alles egal sein, denn in weniger als zehn Minuten endet meine Schicht. Dann bin ich in null Komma nichts durch die Tür und es geht ab in den Urlaub!
»Hallo? Sind Sie noch da?«, krächzt der Kunde.
»Natürlich«, entgegne ich.
»Wieso sagen Sie dann nichts?«
Weil du Knäckebrot mir keine Frage gestellt hast, würde ich am liebsten antworten. Stattdessen beherrsche ich mich und sage: »Entschuldigen Sie bitte. Ich bin noch hier!«
Knä|cke|brot n.; Gen. –s; Pl. –e; (umgangssprachlich für) Dummkopf; siehe auch: Intelligenzverweigerer
»Dann erklären Sie mir mal bitte, wieso ich Ihnen angeblich noch 24,99 € schulde!«
»Aber sicher«, gebe ich zurück und versuche, mein Seufzen weitestgehend zu unterdrücken. Seit einem Jahr hänge ich nun schon in diesem Studentenjob fest und zu allem Überfluss habe ich das Studium, zu dessen Unterstützung dieser Job eigentlich gedacht war, an den Nagel gehängt. Sobald unser Urlaub vorbei ist, muss ich mir dringend Gedanken machen, wie es beruflich für mich weitergehen soll. »Können Sie mir dann bitte Ihre Kundennummer nennen?«
»Die habe ich doch gerade schon Ihrer beschränkten Kollegin diktiert!«, empört sich Mister Sympathikus.
Sym|pa|thi|kus m.; Gen. –; eigentlich ein Teil des vegetativen Nervensystems; hier jedoch für ein Wortspiel entliehen, um einen unsympathischen Menschen zu bezeichnen
Diesmal kann ich mein Seufzen nicht unterdrücken.
»Das mag sein«, entgegne ich, »aber unser System überträgt die Kundennummern leider nicht, wenn Sie zu uns in die Reklamationsabteilung verbunden werden. Außerdem darf ich Sie bitten, Ihre Wortwahl zu mäßigen, ansonsten muss ich das Gespräch an dieser Stelle beenden.«
Mein Finger wandert zur roten Taste der Telefonanlage, weil ich mich bereits auf einen Schwall Beleidigungen gefasst mache, der mir nun entgegenschlägt. Überraschenderweise zeigt sich der Kunde jedoch einsichtig, murmelt etwas von Stress und sogar eine halbherzige Entschuldigung, bevor er mir seine Kundennummer durchgibt. Nach Abgleich seiner Daten und einem kurzen Blick auf sein Konto kann ich ihm sogar zügig erklären, dass der offene Betrag aus einer Bestellung vom Mai stammt, für die er letzten Monat schon eine Zahlungserinnerung erhalten hat. Inzwischen sind fünf Euro Mahngebühren dazugekommen, die ich ihm unaufgefordert gutschreibe, sodass er sich sogar ansatzweise freundlich verabschiedet.
Ich blicke auf die Uhr. Eigentlich endet meine Schicht erst in fünf Minuten, aber ich finde, dieses Gespräch ist ein guter Abschluss für den heutigen Tag. Außerdem laufe ich sonst Gefahr, hier nicht pünktlich um elf Uhr raus zu sein. Dabei wird Cleo sicherlich schon unten auf mich warten.
Also logge ich mich an der Telefonanlage und am Computer aus – in der Hoffnung, dass mein Supervisor nicht mitbekommt, dass ich mich bereits abgemeldet habe. Die restlichen Minuten bis elf Uhr bleibe ich einfach an meinem Arbeitsplatz sitzen.
Wahnsinn!, denke ich. Unser erster gemeinsamer Urlaub! Wie der wohl werden wird?
Seit einem Jahr sind Cleo und ich inzwischen zusammen. Eigentlich verstehen wir uns super, aber aus dem Bekanntenkreis habe ich immer wieder von Pärchen gehört, die sich während ihres ersten gemeinsamen Urlaubs so richtig in die Haare bekommen haben, dass ich gespannt bin, wie es uns ergehen wird.
Immerhin fahren wir nicht allein. Cleos beste Freundin Annette und ihr neuer Tuppes begleiten uns.
Tup|pes m.; Gen. –; (rheinländisch für) Typ
Wie heißt der noch mal? Mist! Irgendwie kann ich mir seinen Namen nicht merken — bestimmt, weil ich ihn bisher noch nicht getroffen habe. Annette und er sind nämlich erst seit zwei Monaten zusammen. Insgesamt dürfte es also für uns alle aufregend werden!
Dass wir gemeinsam wegfahren ist lediglich einer spontanen Schnapsidee zu verdanken, denn eigentlich hatte niemand von uns wirklich Urlaub geplant. Aus finanziellen Gründen. Cleo muss nämlich ihr neues Auto abbezahlen, Annette hat gerade erst ihr Studium beendet und ich verdiene in meinem lausigen Callcenter-Job ohnehin zu wenig.
Vor einem Monat hatten Cleo und Annette bei einem Mädelsabend den Einfall, dass wir doch zu viert eine Woche ins Feriendomizil von Cleos Eltern nach Empuriabrava fahren könnten. Mit dem Auto. Dann wären wir flexibel, bräuchten keine Bahn- oder Flugtickets, kein Hotel, kein Garnichts. Außerdem könnten wir dort Cleos Geburtstag feiern! Eigentlich also perfekt, wenn da nicht die Sache mit ihren Eltern wäre. Aber auch das hat uns nicht abgehalten und deshalb heißt es nun: Auf Wiedersehen Kölle, viva España!
Um Punkt elf Uhr stehe ich auf, gebe mein Headset vorne beim Supervisor ab und verabschiede mich schnell. Endlich geschafft!
Als ich das Gebäude verlasse, sehe ich Cleos Mini Cooper schon von Weitem. Sie hat auf dem Seitenstreifen etwa dreißig Meter vom Callcenter entfernt geparkt. Die drei stehen auf dem Bürgersteig und unterhalten sich angeregt: Cleo, Annette und ein circa zwei Meter großer Hüne. Na super! Annettes Neuer sieht aus, als ob er seine gesamte Freizeit im Fitnessstudio verbringt. Jedenfalls ist er groß und breit genug, um bei mir augenblicklich Minderwertigkeitskomplexe auszulösen. Sollte es in dieser Welt auch nur ein wenig ausgleichende Gerechtigkeit geben, dann ist Konrad entweder dumm wie Bohnenstroh, bekommt keinen korrekten Satz auf die Reihe und seine Stimme klingt, als hätte er gerade Helium eingeatmet.
Ich frage mich, wieso Cleo sein Aussehen noch nie erwähnt hat. Sie hat ihn nämlich bereits getroffen, aber ihr einziger Kommentar war nur: »Och, das ist ein ganz umgänglicher Typ.«
Mit möglichst viel Swag bewege ich mich auf die drei zu.
Swag m.; Gen. –; (aus dem Englischen entliehen) eine übertrieben lässig und / oder selbstsichere Ausstrahlung
Als Erste sieht mich Annette.
»Timooooo!«, brüllt sie über die ganze Helmholtzstraße hinweg, sodass man sie vermutlich noch im dritten Stock bei ProTrend trotz Doppelverglasung hören kann. »Viva España! Juchhuuuuu!«
»Ist ja gut!«, versuche ich sie zu beruhigen.
Dann steht er vor mir.
»Hi! Ich bin Konrad!«, begrüßt er mich — mit tief maskuliner Stimme. So viel zum Thema Helium!
Richtig, so heißt er!
»Timo«, erwidere ich und ergreife seine Hand zur Begrüßung.
Bevor ich noch mehr sagen kann, fordert Cleo bereits zum Einsteigen auf: »Also, dann! Wir haben einen langen Weg vor uns!«
In der Tat! Zwölf Stunden Autofahrt stehen uns laut Routenplaner bevor. Zunächst geht es über die A1 in Richtung Luxemburg, um von dort aus einmal über die A31 vertikal durch ganz Frankreich zu düsen, bevor wir dann hoffentlich noch vor Mitternacht in Empuriabrava ankommen. Die Gratis-Thrombose haben wir uns dann auch redlich verdient!
Wir sind noch nicht aus Ehrenfeld raus, als Konrad mir von hinten eine CD hinhält: »Hier! Ich habe richtig coole Sommermucke für uns mitgebracht, damit wir schon mal in Urlaubsstimmung kommen!«
Cleo schnappt sich begeistert das CD-Set und legt sofort die erste CD ein: »Was für eine geniale Idee!«
»Ja, klasse«, pflichtet Annette ihr von hinten bei.
When I dance they call me Macarena dudelt es augenblicklich aus den Boxen. Oh, Macarena!
Na super, da darf ich mich wohl auf zwölf Stunden Autofahrt mit feinster Stampfmusik einstellen!
Stampf|mu|sik f.; Gen. –; Pl. –en; Partymusik, die aufgrund ihres Rhythmusmusters (Ufta, ufta, ufta, stampf, stampf, stampf!) abwertend Stampf- oder wahlweise auch Ballermannmusik genannt wird
In den kommenden Stunden hangeln wir uns von einer Autobahnraststätte zur nächsten. Entweder muss Cleo auf Toilette oder Konrad möchte sich kurz die Beine vertreten oder ich habe Hunger oder Annette möchte sich eine Zeitschrift kaufen, weil ihr langweilig ist. Und so passieren wir kaum eine Raststätte, ohne dass jemand fragt: »Können wir da kurz halten?«
Gegen vier Uhr finden wir jedoch alle, dass es langsam Zeit wird, etwas zu essen. Also machen wir wieder an der nächsten Raststätte halt.
Dort sehe ich, dass Cleo sich lediglich einen Kaffee holen möchte. Dabei hat sie auch heute Morgen schon nichts gefrühstückt.
»Möchtest du nicht wenigstens ein Brötchen essen?«, frage ich sie leise.
Cleo schüttelt den Kopf.
Seitdem sie weiß, dass wir in Urlaub fahren, hat sie sich selbst eine rigorose Diät auferlegt. Ich persönlich finde das absolut unnötig, weil ihr ein paar Kilos zu viel durchaus stehen. Aber Cleo sieht das anders, vor allem seit dem Vorfall mit ihrem Vater an Weihnachten. Da hat er ihr mehr oder weniger deutlich ins Gesicht gesagt, sie solle doch mal etwas abnehmen.
Danach war sie so frustriert, dass sie wochenlang alles in sich hineingeschaufelt hat. Deswegen nun auch die selbst verordnete Diät.
»Aber wir sind doch jetzt im Urlaub«, sage ich, »da soll man Spaß haben!«
»Ab Morgen habe ich Spaß!«, erwidert sie. »Wenn wir allein sind.«
Als ob es Cleo nicht schon genug Überwindung gekostet hätte, ihre Eltern fragen zu müssen, ob sie uns ihr Ferienhaus für eine Woche überlassen können, stellte sich zudem heraus, dass die beiden ausgerechnet bis morgen selbst noch in Empuriabrava Urlaub machen. Also werden wir ihren Vater heute Nacht wohl oder übel noch einmal kurz treffen müssen, bevor er dann morgen zusammen mit seiner Frau abreist.
»Super!«, hat Cleos Mutter gesäuselt. »Dann können wir euch den Schlüssel ja persönlich übergeben. Ach, wie schön, dann sehen wir uns noch mal!«
Seit Weihnachten hat Cleo nämlich lediglich ein paar Mal mit ihrer Mutter telefoniert und jedes Mal eine neue Ausrede gesucht, wieso sie just zu diesem Zeitpunkt nicht vorbeikommen konnte. Mit ihrem Vater hat sie seitdem überhaupt nicht mehr gesprochen.
»Wie? Du isst gar nichts?«, fragt Annette erstaunt, als wir uns an einen Vierertisch setzen.
»Nö, hab gerade keinen Hunger«, flunkert Cleo.
»Na, hoffentlich hast du später Hunger, wenn wir in deinen Geburtstag reinfeiern«, hofft Annette. »Ich hab dir nämlich extra ‘nen Kuchen gebacken! Ich hoffe nur, der hält sich bei der Hitze überhaupt im Kofferraum!«
»When I dance they call me Salmonella«, singe ich scherzhaft in der Melodie von Macarena.
»Ach, hör nicht auf den!«, winkt Cleo ab. »Das ist total lieb von dir! Der Kuchen hält sich bestimmt.«
Konrad hat sich indes mit drei belegten Baguettes eingedeckt, die er nun inbrünstig vertilgt.
»Mmh! Deniziös!«, schwärmt er dabei.
Cleo und ich werfen uns einen vielsagenden Blick zu. Denn das Universum hat in Bezug auf Konrad zumindest in einem Punkt für ausgleichende Gerechtigkeit gesorgt: Sprachlich versiert ist er tatsächlich nicht. Immer wieder hat er uns in den letzten vier Stunden mit frohgemuten Stilblüten, Versprechern und Konradismen erfreut.
Kon|ra|dis|mus Gen. –; Pl. –men; (abgeleitet von Neologismus, dem linguistischen Begriff für Wortneuschöpfung) ein von Konrad versehentlich neu erfundenes Wort (z.B. deniziös statt deliziös)
Die ersten paar Male habe ich ihn noch sprachlich korrigiert, aber irgendwann wurde mir das zu anstrengend, weil er fast die gesamte Autofahrt lang über das Leben sinniert. Ich finde ja, dass Gott ganz schön krass drauf war, als er beschlossen hat, ausgerechnet den guten Konrad zu einem kleinen Philosophen zu formen. Das ist ja fast, als würde man Verona Pooth die Leitung der Duden-Redaktion überlassen. Aber, was soll’s?
»Mensch!«, freut sich Annette, bevor sie von ihrem Brötchen abbeißt. »Das wird wirklich der günstigste Urlaub, den ich jemals hatte!«
Stimmt, für die Strecke hin und zurück werden wir maximal Benzinkosten in Höhe von 300 Euro haben. Das sind gerade einmal 75 Euro für jeden von uns. Für die Unterbringung brauchen wir nichts zu zahlen, sodass wir uns nur noch verpflegen müssen. Cleo meinte jedoch, dass das Ferienhaus eine vollständig ausgestattete Küche besitze und um die Ecke direkt ein Supermarkt sei.




Nach unserem verspäteten Mittagessen brechen wir sofort wieder auf und ich löse Cleo am Steuer ab. In den kommenden Stunden hören wir zum zweiten Mal die Sommerhits-CDs, die der gute Konrad und die liebe Annette vollständig mitträllern können. Sie singen Vamos a la playa, das Lied aus der Bacardi-Werbung, A La La La La Long, Bailando, Sunshine Reaggae, Volare und was sonst nicht noch alles. Zwischenzeitlich bin ich verwundert, dass auch Kermit der Frosch einen Sommerhit aufgenommen hat, bevor ich erkenne, dass es sich doch nur um Shakira handelt, die sich wieder durch irgendeine Allerweltsmelodie knödelt. Die Arme muss inzwischen ja irreparable Knoten auf ihren Stimmbändern haben!
Als wir in Frankreich die erste Mautstation passieren, macht Cleo sich auf Wikipedia schlau, wie lange es hier schon Autobahngebühren gibt.
»Offensichtlich kann man auch kontaktlos bezahlen. Hier steht, dass es ein Verfahren gibt, bei dem man in Schrittgeschwindigkeit auf dafür reservierten Fahrstreifen fährt und dabei registriert wird«, fasst sie den Artikel zusammen. »Hierfür bekommt man ein kleines Bordgerät, welches über Mikrowellen mit der Mautstation kommuniziert. Was es nicht alles gibt!«
»Na ja«, gibt unser Hobby-Sokrates zu bedenken, »ob sich das aber wirklich rentiert? Ich meine, wie viele Leute haben denn schon ihre Mikrowelle im Auto, um so abrechnen zu können.«
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Cleo ein lautes Lachen unterdrücken muss.
Und auch Annette schmunzelt amüsiert: »Du, ich glaube nicht, dass man dafür eine Mikrowelle braucht.«
»Na, wie dem auch sei«, fährt Konrad unbehelligt fort, »da wäre ein Wick-Netten-System doch viel praktischer, oder? So wie in Österreich.«
Wir alle werfen unsere Stirn in Falten.
»Was für ein System?«, hakt Annette bei ihrem Angebeteten nach.
»Na, die haben doch ein Wick-Netten-System in Österreich. Da muss man sich so eine Wick-Nette kaufen und klebt die dann an seine Windschutzscheibe, damit die sehen, dass man schon bezahlt hat.«
Annette und Cleo sehen nicht viel schlauer aus. Also eile ich dem armen Konrad doch noch einmal zu Hilfe: »Das spricht man, glaube ich, Vignette aus.«
»Ach so, ja, jedenfalls haben die da dieses Vin-Jetten-System in Österreich. Das ist deren Ambivalent zu Frankreichs Autobahnmaut.«
Diesmal assistiert Annette ihm und meint, das richtige Wort sei Äquivalent und nicht ambivalent, aber Konrad ist für unsere Einwände recht immun. Er nickt zwar immer zustimmend, dennoch hält ihn das nicht davon ab, das Wort beim nächsten Mal wieder falsch zu verwenden. Während der gesamten Autofahrt sagt er beispielsweise unentwegt anstattdessen, Konrads selbst gebasteltes Kofferwort aus anstatt und stattdessen.
Kof|fer|wort n.; Gen. –s; Pl. –wörter; ein Kunstwort, das sich aus zwei bestehenden Wörtern zusammensetzt; Bsp: Labradoodle (Zusammensetzung aus Labrador und Poodle)
Gut, inzwischen wissen wir also: Das K in Konrads Namen steht für Kreativität und das I wahrscheinlich für Intelligenz.
Aber immerhin ist er unterhaltsam und wenigstens nicht so ein Poser wie Annettes letzter Freund, den ich zum Glück nur einmal treffen musste. Bei manchen Menschen reicht das ja auch aus!
Irgendwann kurz vor Montpellier stelle ich fest, dass ich mir einen fetten Sonnenbrand eingefangen habe, weil ich Allround-Spezialist meinen linken Arm die ganze Zeit während der Autofahrt aus dem Fenster gehalten habe. Allzu gut bestellt ist es mit meiner eigenen Intelligenz also auch nicht! Dabei bekomme ich sonst fast nie einen Sonnenbrand, aber durch den Fahrtwind habe ich nicht bemerkt, wie mir die Sonne mehrere Stunden auf den Arm knallt.
Oh, Macarena!, geben die Dolby-Boxen zum gefühlt hundertsten Mal zum Besten.
»Können wir jetzt mal was anderes hören?«, fragt Cleo in die Runde.
»Oh, ja bitte!«, sage ich und warte gar nicht erst das Votum der Rückbank ab. Inzwischen haben wir wirklich oft genug gehört, dass wir unsere Congas schütteln sollen, dass hippe Teenager keine Jeans tragen und Club Tropicana-Drinks kostenlos sind.
Erleichtert drückt Cleo die Eject-Taste am Autoradio, woraufhin die Macarena-Jungs durch lautes Rauschen abgelöst werden.
»Wie stellt man denn hier die Sender ein?«, fragt Cleo, während sie auf alle Tasten gleichzeitig drückt. Wunderbar! Die Queen of Hifi-Anlagen wendet wieder eine ihrer fachkundigen Techniken an.
Ich möchte gerade sagen, dass sie so bestimmt keinen Sender eingestellt bekommt, als das Rauschen tatsächlich von Musik abgelöst wird. Come on over, have some fun, dancing in the morning sun, klingt es bekannterweise aus den Boxen. Der Bacardi-Song!
»Echt jetzt?«, platzt es fassungsloserweise gleichzeitig aus Cleo und mir heraus.




Nach weiteren zweihundert Kilometern kommen wir um halb zwölf endlich in Empuriabrava an. Oh, Macarena!, klingelt es immer noch in meinem Kopf, als ich aus dem Wagen aussteige. Dabei haben wir das Radio schon vor Stunden ausgestellt.
Eine herrliche Brise weht uns um die Ohren. Kalt ist es trotzdem nicht.
»Cool«, freut sich Annette mit einem Blick auf die Uhr, »dann sind wir ja noch rechtzeitig, um gleich auf deinem Geburtstag anzustoßen!«
Cleo müht sich ein Lächeln ab, was Annette sofort bemerkt.
»Alles okay bei dir?«, möchte sie wissen.
»Ja«, gibt Cleo wenig überzeugend zurück. »Ich hoffe nur, dass es jetzt gleich nicht wieder Stress mit meinem Vater gibt.«
»Ach, das glaube ich nicht«, versucht Annette sie wieder hoffen zu lassen. »Doch nicht an deinem Geburtstag! So arschig wird doch selbst er nicht sein, oder?«
Cleo und ich werfen uns einen Blick zu. Vermutlich muss sie gerade auch an das letzte Weihnachtsfest denken.
Derweil hebt Konrad bereits fleißig das Gepäck aus dem Kofferraum. Jeder nimmt sich eine Tasche, bevor wir zu viert die kleine Treppe zur Eingangstür hinaufgehen. Innen brennt noch Licht. Wahrscheinlich sind Cleos Eltern extra aufgeblieben und warten auf unsere Ankunft. Vielleicht wäre es höflicher gewesen, wenn wir von unterwegs wenigstens eine kurze Nachricht geschrieben hätten.
Cleo klingelt und nur wenige Sekunden später reißt Frau Schulte die Tür auf: »Hallöchen! Da seid ihr ja!«
»Hallo Mama!«, grüßt Cleo etwas steif zurück.
»Ach, wie schön, dass ich dich endlich noch mal sehe«, säuselt Frau Schulte in einer viel zu hohen Tonlage. Viel zu freundlich, viel zu bemüht. Dasselbe habe ich auch schon an Weihnachten gedacht, als ich sie das erste Mal getroffen habe. Nacheinander treten wir ein.
»Herr Seidel«, begrüßt sie mich. Immerhin hat sie sich meinen Namen gemerkt. »Wie schön, Sie wiederzusehen!«
Ich schüttle ihre Hand, die sie mir wie einen kalten Fisch in meine legt.
»Ebenso«, entgegne ich.
»Ach, und da ist ja auch die Annette und, och, wen haben wir denn da?«, Frau Schultes Stimme steigt um eine weitere Oktave, als sie Konrad erblickt.
»Guten Abend«, grüßt dieser ganz gentlemanlike. »Vielen Dank für die Einladung! Ich bin Konrad.«
»Och«, säuselt es weiter. »Wie höflich! Hatten Sie denn eine angenehme Fahrt?«
Ihre Frage richtet sich offensichtlich nur an Magic Mike, weswegen wir anderen schon einmal unser Gepäck in den Wohnbereich tragen.
Dort sitzt Herr Schulte in einem Fernsehsessel und hält es nicht für nötig aufzustehen. Stattdessen mustert er Cleo von oben bis unten mit einem eisigen Blick.
»Hallo Papa«, grüßt Cleo schüchtern.
»’n Abend«, entgegnet er. Bleibt aber weiterhin sitzen.
»Sie haben doch bestimmt Hunger!«, flötet es hinter uns. »Nach der langen Fahrt! Möchten Sie einen Tellerchen Paella? Die habe ich extra gekocht.«
Frau Schultes Frage richtet sich nach wie vor einzig und allein an Konrad. So, als ob Cleo, Annette und ich gar nicht anwesend wären.
»Aber sicher!«, entgegnet Konrad.
»Ein kurzes Momentchen! Ich mache die Paella nur kurz warm.« Dann verschwindet sie in die Küche, die direkt an das Wohnzimmer grenzt.
»Setzt euch!«, bietet Herr Schulte an. Bei seinem Tonfall bin ich mir allerdings nicht sicher, ob es eine Geste der Höflichkeit oder ein Befehl sein soll. Jedenfalls nehmen wir alle zusammen am Esszimmertisch Platz, der auch schon gedeckt ist.
Es dauert tatsächlich nicht lange, bis Frau Schulte mit einem riesigen Topf aus der Küche kommt und uns allen eine Portion Paella reicht. Auf meinem Teller starren mich haufenweise Oktopus-Tentakel, Garnelen und sonst noch jede Menge Meerestiere an, zwischen denen sich ein paar rote Reiskörner verirrt haben. Es schmeckt so furchtbar wie es aussieht.
»Mit Langusten und Jakobsmuscheln!«, schwärmt Frau Schulte, als sie sich zu uns an den Tisch setzt.
»Deniziös!«, lobt Konrad, während er sich eine weitere Gabel Meerestiere in den Mund schiebt.
In Cleos und Annettes Gesichtern meine ich einen Anschein von Ekel wahrzunehmen. Auch ich würge mir die Frutti-di-Mare-Grütze nur mit Müh und Not herunter. Immerhin gibt es Rotwein. Der hilft ein wenig, den Meereszoo hinunterzuspülen.
Ich habe gerade meine Portion aufgegessen, als Frau Schulte mir eine weitere Ladung auf den Teller klatscht, während ich einen kurzen Moment lang nicht aufgepasst habe.
»Lecker, nicht wahr?«, lächelt sie mich begeistert an.
»Unsäglich«, entgegne ich.
»Es ist Mitternacht!«, kreischt Annette auf einmal und möchte gerade ein Happy Birthday anstimmen, als Cleo ihr mit einer Geste und einem Kopfschütteln zu verstehen gibt: Jetzt nicht!
»Ja«, sagt sie stattdessen an ihre Mutter gerichtet. »Es ist Mitternacht!«
Frau Schulte schaut überrascht auf die Wanduhr. »Ja, in der Tat. Es ist schon Mitternacht.«
Wir vier sehen betreten zuerst ebenfalls zur Uhr und dann uns gegenseitig an.
Für einen kurzen Moment denke ich, Cleos Eltern machen sicherlich nur einen Scherz. Bestimmt stehen sie jetzt gleich beide auf und gratulieren ihrer Tochter zum Geburtstag, aber stattdessen sagt niemand etwas. Man hört nur den Fernseher im Hintergrund laufen.
Also dreht sich Cleo zu ihrem Vater und wiederholt noch einmal: »Papa, es ist Mitternacht!«
Dieser blickt verständnislos von seinem Fernseher in unsere Richtung. Dann schaut auch er zur Wanduhr hinüber, bevor er uns wieder ansieht. Sichtlich irritiert, was er mit solch einer Information anstellen soll.
Doch nach wenigen Sekunden greift er nach der Fernbedienung, stellt den Fernseher aus, erhebt sich und kommt auf uns zu.
Immerhin!, denke ich.
Dann jedoch wendet er sich an seine Frau: »Komm, Marianne! Die Kinder sind bestimmt müde und möchten schlafen.«
»Ach so, ja natürlich, entschuldigt. Ich habe den Hinweis gar nicht verstanden. Also, da drüben liegen Bettdecken auf dem Sideboard. Zwei können hier auf den beiden Sofas schlafen und das zweite Schlafzimmer ist frei.«
Dann wünschen die beiden eine gute Nacht und verschwinden.
Annette sieht ihnen mit offenem Mund hinterher.
»Haben die jetzt ernsthaft deinen Geburtstag vergessen?«, flüstert sie.
Cleo nickt und fängt augenblicklich an zu weinen.
»Ich hatte mir das schon gedacht!«, bringt sie unter Tränen hervor.
»Das gibt’s ja nicht!«, entfährt es Annette. »Ich meine, ich weiß ja, dass ihr nicht das beste Verhältnis habt. Aber das?« Ungläubig schaut sie immer noch in unsere Richtung, während ich Cleo in den Arm nehme. »Wer vergisst denn den Geburtstag des eigenen Kindes?«
»Meine Eltern offensichtlich«, schluchzt Cleo. »Ach, was soll’s. Ist ja nichts Neues.«
»Wie? Ist das schon mal vorgekommen?« Ich bin schockiert, denn davon hat Cleo mir bisher nichts erzählt.
Sie nickt.
»Ich dachte ja, die Sache an Weihnachten wäre schon die Krönung gewesen«, flüstere ich in die Runde, »aber das schlägt dem Fass wirklich den Boden aus.«
»Was war denn an Weihnachten?«, möchte Konrad wissen.
»Da hat ihr Vater den ganzen Abend lang gezetert, was Cleo und ihr Bruder hätten besser machen sollen. Dass sie den falschen Beruf haben, das falsche Auto, zu wenig Geld verdienen, dass sie hätten studieren und mehr aus ihrem Leben machen sollen. Schlimm war das! Und ihre Mutter hat nichts dazu gesagt!«
Annette ist verwirrt: »Aber du hast doch studiert?«
»An der FH! Das zählt für meinen Vater nicht!«
Annette verdreht die Augen. Zurecht.
Ich werde solch einen Menschen nie verstehen. Selbst wenn man im Zweifel für den Angeklagten ist und annimmt, dass er vielleicht einfach nur einen schlechten Tag an Weihnachten hatte, so wie Mister Sympathikus heute Morgen, den man doch noch zur Einsicht bekehren konnte, wäre dieser Vertrauensvorschuss inzwischen aufgebraucht. Wenn die eigene Tochter ein halbes Jahr lang nicht mit einem spricht, sollte man sich als Vater vielleicht doch ein paar
Gedanken machen. Heute hätte er die Gelegenheit gehabt, ein wenig von dem zu kitten, was in den letzten Jahren immer mehr Risse bekommen hat. Von der Sache mit dem vergessenen Geburtstag ganz zu schweigen!
Schließlich ist es Konrad, der sein Rotweinglas erhebt und Cleo als Erster zum Geburtstag gratuliert: »Happy Börsday, Cleo! Weißt du, was? Wenn man jung ist, kann man sich seine Familie nicht aussuchen. Man kann nicht einfach zuhause ausziehen. Aber wenn man älter ist, hat man das Glück, dass man sich seine Familie und die Menschen, mit denen man Zeit verbringen möchte, selbst aussuchen kann. Und für die nächste Woche sind wir deine Familie!«
»Ooooch! Wie schön!«, gibt Annette ganz gerührt von sich. Wäre dies ein Comic, würden jetzt Herzchen aus ihren Augen fliegen. Aber auch Cleo ist ergriffen und, ja, sogar ich muss zugeben: Das waren weise Worte. Und das ausgerechnet von unserem deniziösen Konrad!
Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie mag ich diese Knalltüte! Außerdem gibt es Wichtigeres im Leben als sprachlich versiert zu sein.
Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass das doch noch ein toller Urlaub wird — sobald Mr und Mrs Eisenherz morgen abgefahren sind.
Nach wenigen Minuten ist auch Cleo zum Glück etwas besser gelaunt. »Meine Güte«, stellt sie leicht amüsiert fest. »Das ist ja wieder wie an Weihnachten! Ich treffe auf meinen Vater und das Ganze endet damit, dass ich heulend dasitze. Total peinlich!«
Wir alle versichern ihr, dass ihr nichts peinlich zu sein braucht. Aber in einer Sache hat sie recht: Es ist tatsächlich fast so, als hätte jemand an Weihnachten eine Kurzgeschichte geschrieben und nun eine korrespondierende Fortsetzung verfasst, die in der Urlaubszeit spielt.