Ein Klugscheißer zu Weihnachten
eine weihnachtliche Kurzgeschichte
»Herzlich willkommen beim ProTrend-Kundenservice. Mein Name ist Timo Seidel. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«, frage ich freundlich in mein Headset.
»Ja, gude Morge. I bin die Frau Kuhn, die Nachbarin von der Frau Bürgele. Wisset Se?«
Ich überlege kurz, ob die Kundin tatsächlich von mir erwartet, dass ich antworte. Denn ganz offensichtlich handelt es sich doch um eine rhetorische Frage. Frau Kuhn schweigt allerdings, daher denke ich mir Schön höflich
bleiben und antworte mit einem verständnisvollem: »Ja, natürlich.« Kennen wir sie nicht alle? Die Frau Bürgele.
»Ja, jedenfalls isch des die, wo Se mir empfoahle had. Se sind doch des Versannhaus, die wo immer so hurtisch versenden tun, nich woah?«
Hat bitte jemand Untertitel für mich?
Frau Kuhn schweigt erneut und ich befürchte, es ist wieder keine Kunstpause.
Also wiederhole ich brav: »Ja, natürlich.«
»Jo, könnens mir dann des Kuscheldir vonne Seide 847 bis heud Middag zusende? I han nämlie des Gschenk für mei Enkelin vergesse.«
Ich schaue zur Wand neben mir. Es ist der 24. Dezember und die Wanduhr zeigt 11:29 Uhr. Was denkt die gute Frau, womit wir versenden? Mit Formel-Eins-Rennwagen?
Vor allen Dingen wüsste ich gern, wer ihr den Floh ins Ohr gesetzt hat, dass wir unsere Ware schnell versenden - oder, um es mit Frau Kuhns Worten zu sagen, »hurtig versenden«.
Ehrlich gesagt kann sie froh sein, wenn ihr Spielzeugzug noch vor den Sommerferien bei ihr eintrifft.
Seit gut drei Monaten arbeite ich nun hier bei ProTrend. Ein Versandhauskatalog, bei dem die Uhren im Jahr 1998 stehengeblieben sind: Auf unserer Internetseite kann man beispielsweise immer noch keine Waren ordern, Bestellungen erhalten wir
telefonisch und teilweise sogar noch per Postkarte, und zwei Mal pro Jahr versenden wir einen (gefühlt) 18.000-Seiten-Katalog. Wir sind quasi das Amazon für alle Senioren ab 65 aufwärts.
Aber was soll’s? Lange bleibe ich eh nicht hier. Im Oktober habe ich endlich mein Studium begonnen und in spätestens vier Jahren bin ich hier raus, arbeite als Lehrer und muss hoffentlich nie wieder in meinem Leben auch nur ein einziges
Telefonat führen.
»Es tut mir leid, Frau Kuhn, aber wir bieten leider keinen Expressversand. Wenn Sie heute bestellen, geht Ihre Ware in drei bis fünf Werktagen an Sie heraus.«
»Ja, Heilig’s Blechle!«, entfährt es Frau Kuhn. »Da isch Weihnachte ja scho vorbei!«
Tätärätä! Wir haben eine Gewinnerin!
Sie schweigt wieder und ich füge automatisiert ein »Ja, natürlich« hinzu.
»Ja, was soll i denn jedscht mache?«, fragt sie.
Da ich hier chronisch unterfordert bin, blättere ich parallel in unserem Katalog zu Seite 847. Ich bekomme akuten Plüschausschlag, als ich das Geschenk erblicke, das Frau Kuhn für ihre Enkelin ausgesucht hat. Solchen Kitsch kann auch nur
ProTrend anbieten. Wo bin ich hier nur gelandet?
Plüsch|aus|schlag
m. Gen. –s Ausschläge (Pl. selten)
allergische Reaktion auf geschmacklose und zu niedlich gestaltete Gegenstände
»Vielleicht können Sie noch kurz in die Stadt fahren und dort ein Geschenk für Ihre Enkelin besorgen?«, schlage ich vor.
»Ja, ne, des kann i ja mache, oder?« Kunstpause. »Ja, ne, des is a gudde Idee! Wissens denn, wie lange die Geschäfte heut aufhan tun bei uns?«
Die Uhr springt auf 11:30 Uhr um. Meine Schicht ist vorbei! Daher möchte ich schon sagen Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen, aber was soll’s, heute ist Weihnachten. Also öffne ich den Internetbrowser an
meinem Rechner. Ich frage Frau Kuhn, in welchem Ort sie wohnt, schaue nach, welche Kaufhäuser es dort gibt, und teile ihr die Öffnungszeiten mit. Es wird knapp für die arme Dame. Sie bedankt sich höflich und ich packe meine Sachen zusammen.
Zuhause angekommen wartet Cleo schon auf mich.
»Hier, ich habe dir schon mal deine Sachen rausgelegt!«, sagt sie und deutet auf eine Jeans, schwarze Socken und ein weißes Hemd, welche sie allesamt über einen der Esszimmerstühle
geworfen hat. So, als ob ich nicht imstande wäre, mich selbst einzukleiden.
Heute treffe ich allerdings zum ersten Mal Cleos Eltern. Morgen wird sie dann meine Mutter kennenlernen. Nachdem wir vor drei Monaten Hals über Kopf zusammengezogen sind, ließ sich ein Zusammentreffen mit unseren Eltern nicht mehr länger
aufschieben. Da dachten wir: Weihnachten ist eh immer Kacke, Familienstress und so, da können wir den Horror gleich in einem Aufwasch erledigen.
Neben die Klamotten hat sie außerdem dieses widerliche Eau de Ghetto gestellt, das sie mir vor zwei Wochen gekauft hat und mit dem ich mich jetzt immer einnebeln muss, wenn wir ausgehen.
Eau de Ghet|to
n. Gen. –s Pl. –s
hippes Duftwasser, das bei der Freundin Assoziation von Chippendales erzeugt, beim Freund bestenfalls Brechreiz auslöst, schlimmstenfalls aber brennende Augen verursacht
»Beeil dich! Sonst sind wir nicht pünktlich zur Mette bei meinen Eltern!«, drängelt Cleo.
»Jetzt mach nicht so einen Stress!« Sie wirkt ungewöhnlich angespannt. »Außerdem zieh ich bestimmt kein weißes Hemd an. Darauf sieht man ja jeden
Fleck!«
Cleo seufzt dramatisch laut, rennt ins Schlafzimmer und kommt mit dem Bügelbrett heraus. Sie sieht mich auffordernd an: »Na los! Welches Hemd denn dann?«
»Die sind doch schon gebügelt!«, sage ich.
»Nee, ich muss das noch mal aufbügeln! Was soll meine Mutter sonst denken?«
Unter diesem Zeichen stehen wohl die nächsten beiden Tage: Was mögen die Eltern von uns denken? Und nicht nur die. Auch bei der restlichen Familie werden wir heute und morgen auf dem Prüfstand stehen. Ach, wie schön! Heißa, heut ist
Weihnachtstag!
Nun bin ich derjenige, der dramatisch laut seufzt. Ich laufe ins Schlafzimmer und schnappe mir das erstbeste dunkle Hemd.
In Cleos Mini fahren wir nach Erftstadt zu ihren Eltern. Sie sitzt hinter dem Steuer, was nicht gerade meine Männlichkeit betont. Es fängt an zu nieseln und sie schaltet den Intervallscheibenwischer an.
»War ja klar, dass wir wieder keine weiße Weihnachten bekommen!«, beklagt sich Cleo.
Und ich denke mir nur, hätte Bing Crosby lieber »I’m dreaming of a drizzly Christmas« gesungen, wären die Menschen vielleicht insgesamt ein wenig zufriedener an Weihnachten.
»Na, super! Jetzt ist auch noch die Ausfahrt gesperrt und ich muss in Gymnich raus!«, fährt Cleo ihre Meckermonologe fort. »Die bauen hier auch echt
ständig!«
»Du hast ja eine Laune!«, entgegne ich.
»Ach, wegen gleich halt. Das wird bestimmt voll der Albtraum! Mit meinen Eltern und so.«
Na ja, übertrieben freue ich mich auch nicht. Ich frage mich allerdings, ob mit »und so« ich gemeint sein könnte.
»Wieso?«, taste ich mich daher vorsichtig an das Thema. Denn mir wird gerade klar, dass ich gar nichts über ihre Eltern weiß. Sie hat nie viel von ihnen
erzählt und ich wiederum habe nie wirklich gefragt. Ich weiß lediglich, dass ihr Vater freiberuflich als Unternehmensberater arbeitet, ihre Mutter sich »ums Haus kümmert« (was auch
immer das heißen mag, wenn die Kinder schon groß sind) und sie einen zwei Jahre älteren Bruder hat, der Polizist ist.
»Ach, nix«, entgegnet sie genervt. »Meinem Vater kannste halt nichts recht machen. Ständig meckert er an mir herum. Und
bisher hatte er auch gegen jeden meiner Freunde etwas einzuwenden.«
Na, Bumsfallera, das wird ja dann richtig lustig gleich!
»Aha!«, sage ich daher nur bedeutungsschwanger.
»Also, nimm das alles nicht persönlich, was gleich kommt. Der hätte an jedem Freund was zu meckern. Selbst, wenn ich Mark Zuckerberg mit nach Hause brächte. Der ist einfach jedem übel
gesonnen.«
»Gesinnt«, verbessere ich sie. »Übel gesinnt.«
Cleo seufzt genervt. »Und bitte verbesser’ meine Eltern nicht. Vor allem nicht meinen Vater!«
»Das kommt darauf an, wie viele sprachliche Fehler er macht. Soll ich darüber einfach hinweghören?«
»Ja! So wie jeder andere normale Mensch das auch tut.«
»Aha«, sage ich, leicht beleidigt. »Ich bin also anormal?«
Diese Diskussion führen wir ja nicht zum ersten Mal. Ich verstehe nicht, wieso die Menschen sich immer darüber echauffieren, wenn man sie auf einen Fehler aufmerksam macht. Ich wäre dankbar! Anstatt wie der
hinterletzte Dorftrottel immer wieder denselben Fehler zu machen, ohne es zu wissen.
»Du weißt schon, wie ich das meine«, lenkt Cleo ein. »Gerade mein Vater ist es nicht gewohnt, kritisiert zu werden. Bei
ihm auf der Arbeit hat er das Sagen!«
Cleo schaltet das Radio ein und Air Supply nimmt uns auf eine Schlittenfahrt mit: »Just hear those sleigh bells jingling, ring-ting-tingling too«. Damit
ist das Thema wohl vom Tisch.
Nach guten zwanzig Minuten kommen wir in Erftstadt an. Ihre Eltern wohnen in einem ziemlich luxuriösen Bunker. Topmodern, schicke Gegend, von außen nicht wirklich einsehbar, mit einer riesigen Eingangstür, die
vermutlich soviel wie Cleos Mini-Cooper gekostet hat. Ziemlich anders als all das, was ich bisher in meinem Leben gewöhnt bin.
Ihre Mutter öffnet uns die Tür. Sie sieht Cleo verdammt ähnlich - wie eine dreißig Jahre ältere Version. Gut sieht sie aus, allerdings hat sie sich verkleidet.
ver|klei|det
Adj.
Seidelsche Beschreibung für das Anziehen von Kleidung, die für einen Anlass unangemessen ist, weil sie selbst für eine Oskar-Preisverleihung als »overdressed« gelten würde
»Wie schön, Sie endlich kennenzulernen!«, begrüßt sie mich.
Okay, ein höfliches »Sie«! Ich weiß jetzt schon, dass meine Mutter Cleo morgen sofort duzen wird.
Als wir das Wohnzimmer betreten, bin ich kurz über die Geräuschkulisse verwundert und frage mich, wer an Heiligabend hier eine Kreissäge bedient? Dann stelle ich aber fest, dass man hier lediglich das
Weihnachtsalbum von Céline Dion aufgelegt hat.
Wir werden in das opulente Wohnzimmer geführt, das größer ist als die Wohnung, in der Cleo und ich wohnen. Ihr Vater erhebt sich von der Couch und kommt mit ernstem Blick auf mich zu. Aus sicherer Distanz reicht
er mir seine Hand, sodass ich meinen Arm ganz ausstrecken muss, um ihn überhaupt begrüßen zu können. Was für ein lächerliches Machtspiel!
»Schulte!«, stellt er sich vor.
Ich argwöhne, dass ein paar frostige Stunden vor uns liegen.
»Seidel!«, antworte ich nicht minder ernst und kann es mir nicht verkneifen, ein James Bond-ähnliches »Timo Seidel« hinzuzufügen. In einer Intonation, die vermuten lässt, wir würden hier gleich Geheimpläne verfeindeter Spione besprechen.
Herr Schultes Blick verfinstert sich.
»Wieso setzen wir uns nicht kurz? Janni und Daniela müssten gleich kommen.« Cleos Mutter deutet auf eine überteuert aussehende Sitzgruppe.
»Mein Bruder und seine Freundin«, klärt Cleo mich auf, während wir uns setzen.
»Ein Piccolöchen?«, fragt Frau Schulte herzlich und hält mir ein Sektglas hin. Ich hasse es, wenn man Diminutive für Speisen verwendet, aber ich weiß
jetzt schon, dass es gleich zum Essen vorab auch ein Süppchen geben wird.
Di|mi|nu|tiv
m. Gen. –s Pl. –n
eine Verniedlichungs- bzw. Verkleinerungsform
Gerade beim Wort Piccolo, was erklärtermaßen bereits eine kleine Sektflasche mit 0,2 Liter Fassungsvermögen beschreibt, finde ich den Diminutiv besonders albern.
Aber was soll’s?, denke ich mir und gieße mir das Gesöff runter. Immerhin ein Moët. Alles darunter hätte ich in dieser Prunkvilla auch als Stilbruch empfunden.
»So, Herr Seidel. Was machen Sie denn beruflich?«, beginnt Herr Schulte seine Inquisition.
In|qui|si|ti|on
f. Gen. – Pl. –en
(ursprünglich) ein juristisches Prozessverfahren der katholischen Kirche, (hier) eine unangenehme Befragung des möglicherweise zukünftigen Schwiegersohns
»Ich studiere«, sage ich zufrieden, denn die Antwort hätte schlimmer ausfallen können. Vor einem halben Jahr zum Beispiel hätte ich zumindest wahrheitsgemäß antworten müssen: »Och, ja, ich gammle eigentlich seit drei Jahre nur herum, seitdem ich mein Abitur gemacht habe, und drücke mich davor, endlich etwas Ernsthaftes in meinem Leben anzugehen.« Zugegeben
– nicht gerade die glorreichsten Jahre meines Lebens.
Die Befragung geht jedoch weiter: »Und was studieren Sie? Wenn ich fragen darf?«
Cleo sieht schon reichlich angespannt aus.
»Englisch und Deutsch auf Lehramt«, antworte ich.
»Im wievielten Semester?«
Es klingelt an der Tür, sodass Cleo die Gelegenheit ergreift, vom Sofa aufspringt, mich mitreißt und lauthals kreischt: »Da ist Janni! Wir können los!«
Sie zerrt mich Richtung Eingangsbereich.
»Sag einfach, dass du im sechsten Semester bist!«, flüstert sie mir auf dem Weg zur Haustür zu.
Cleos Bruder ist nicht weniger furchteinflößend. Genauso grimmig, genauso kritisch, genauso unsympathisch. Zum Glück fahren wir in separaten Autos zur Kirche und während der Christmette gibt es dem Himmel sei
Dank keine Gelegenheit, einander weiterhin zu befragen.
Wieder im Domizil der Schultes angekommen, nehmen wir an einer überdekorierten Tafel Platz. Ich wusste nicht einmal, dass es derart lange Esszimmertische überhaupt gibt - außer bei Downton Abbey vielleicht. Ich rechne fast schon damit,
gleich einen Butler neben mir stehen zu sehen. Außerdem wirkt es doch recht albern, da wir lediglich zu sechst hier sitzen.
Es gibt Gemüsesuppe mit Knoblauch-Croutons.
Die ersten Minuten verbringen wir mit Small Talk, wertschätzen die Kochkünste der Gastgeberin (außer Herr Schulte, der die Suppe leicht versalzen findet, was sie meiner Ansicht nach allerdings nicht ist) und
beschweren uns traditionellerweise darüber, dass es zu Weihnachten nicht geschneit hat.
Bis Herr Schulte meint, es sei nun genug der Trivialitäten und das Kreuzfeuer eröffnet.
»Was macht der Beruf?«, fragt er zunächst seine Tochter.
»Wie immer.« Cleo zuckt mit den Schultern.
Seit einem Jahr ist sie in der Kölner Werbeagentur Werbal angestellt, nachdem sie zuvor jahrelang als Volontärin ausgenutzt wurde. Dafür verdient sie nun aber ordentlich Kohle. Zumindest meiner Meinung nach. Herr
Schulte mag da andere Maßstäbe setzen.
»Ich finde ja immer noch, du hättest damals studieren sollen. Dann bräuchtest du jetzt nicht irgendwelchen Trends in deinem Beruf nachzujagen.«
Cleo seufzt.
»Und was soll dieses neumodische Hippieauto, das du dir gekauft hast?«
»Mir gefällt mein Wagen«, versucht Cleo zumindest ansatzweise eine Verteidigung.
»Das ist doch das Wichtigste«, versucht nun Frau Schulte zu schlichten.
»Ach, papperlapapp! Was sollen die Nachbarn von uns denken, wenn so etwas vor unserem Haus parkt? Da muss man sich ja schämen, bei so einem Schlumpfauto!«
»Na, so schlimm ist das nun auch wieder nicht!«, wirft Janni ein. Seine Freundin sieht ebenso unbehaglich aus wie ich mich fühle.
»Du musst es ja wissen! Wie sieht es bei dir denn beruflich aus?«
»Gut. Ich arbeite gerade auf eine Beförderung hin«, verkündigt Janni stolz.
Nun seufzt Cleos Vater.
Ich überlege kurz, ob ich einfach mit einstimmen soll bei der ganzen Seufzerei, um nicht negativ aufzufallen.
»Wenn du studiert hättest, bräuchtest du gar nicht erst jahrelang auf eine Beförderung hinarbeiten, nur um ein Gehalt zu bekommen, das man nach einem erfolgreichen Studium direkt zum
Einstieg bekommen hätte«, erbost sich Herr Schulte. »Aber von meinen Kindern wollte ja niemand eine Universität von innen sehen!«
Ich frage mich, ob ich wenigstens mit dem Umstand bei ihm punkten kann, dass ich immerhin studiere. Diese Hoffnung versteht Herr Schulte jedoch binnen weniger Sekunden zum Erliegen zu bringen.
»Na ja, aber wahrscheinlich immer noch besser wie ein Lehramtsstudium!«
Ich blicke ein wenig überrascht in die Runde. Anscheinend haben sich hier alle bereits mit der Tatsache abgefunden, dass der liebe Herbergsvater hier eine Beleidigung nach der nächsten heraushauen darf - und alle
das stillschweigend zu akzeptieren haben.
Da mache ich nicht mit!
»Besser als!«, korrigiere ich ihn.
»Wie bitte?« Es ist offensichtlich, dass hier niemand mit Widerworten gerechnet hat - am wenigsten Herr Schulte selbst.
»Es heißt besser als und nicht besser wie. Der Vergleichspartikel beim Komparativ heißt standardsprachlich immer noch als. Ein Lehramtsstudium würde hier Abhilfe schaffen«, triumphiere ich. Den ganzen Abend schon macht er einen Ausdrucksfehler nach dem nächsten. Sprachlich versiert ist er nicht wirklich, daher schmerzt es umso mehr, ihn nun bei solch einem profanen Fehler zu
korrigieren.
»Oh, ne«, seufzt Cleo leise.
»Oh, doch«, äffe ich ihren Tonfall nach.
Herr Schulte überlegt kurz. Wahrscheinlich wägt er ab, ob er mich einfach des Hauses verweisen oder mich noch offenkundiger beleidigen soll. Er entscheidet sich für keines von beidem. Stattdessen starrt er mich
nur angewidert an.
Abgesehen von einem weiteren Seitenhieb auf Jannis Freundin Daniela ist zunächst einmal Schluss mit dem Tribunal.
Bis Cleo sich beim Nachtisch ein zweites Stück Rüblitorte nehmen möchte.
»Findest du wirklich, dass es eine gute Idee ist, noch ein zweites Stück Kuchen zu essen? Ich meine, du wärst ganz schön fett geworden!«
Mir klappt die Kinnlade herunter! Nicht nur, weil ich es noch nie erlebt habe, wie ein Mensch so wenig Taktgefühl haben kann. Nicht nur, weil ich es unfassbar finde, dass ein Vater so beleidigend mit seiner
Tochter spricht. Nicht nur, weil es solche Kommentare sind, die Menschen in die Magersucht treiben - sondern vor allem, weil das Wort »fett« absolut unpassend ist, um Cleo zu
beschreiben. Sie hat eine ganz normale Figur. Mit einem kleinen Bäuchlein, das mich noch nie gestört hat. Und genauso wenig sollte es ihren Dorftrottel von Vater stören.
Cleo stürmt mit Tränen in den Augen aus dem Esszimmer.
Instinktiv möchte ich ihr hinterherrennen - und sie in den Arm nehmen. Aber ich bin zu wütend, als dass ich diese Beleidigung kommentarlos im Raum stehen lassen kann. In den Gesichtern der anderen lese ich, dass
sie ebenso fassungslos sind wie ich.
»Sagen Sie, was stimmt eigentlich mit Ihnen nicht?«, wende ich mich direkt an Herrn Schulte. »Den ganzen Abend schon
hacken Sie auf Ihren beiden Kindern herum, aus denen doch nun wirklich etwas geworden ist. Ihr Sohn ist ein ehrenwerter Polizist und Ihre Tochter arbeitet nun mal in einer Werbeagentur, weil sie das schon immer wollte. Dafür hat sie sich
jahrelang abgeplagt. Also seien Sie doch einfach mal ein bisschen stolz auf Ihre Kinder! Ach ja, und das drollige Schlumpfauto, wie Sie es nennen, ist ein Mittelklassewagen, der 25.000 Euro gekostet hat. Für die meisten Menschen ist das
eine Menge Geld, für das sie lange schuften müssen. Und Cleo hat sich ihr Auto selbst finanziert, ohne Ihre Hilfe. Ich weiß also nicht, wo da das Problem ist. Mich können Sie ja meinetwegen so lange niedermachen, wie Sie das für nötig
befinden, um sich selbst aufzuwerten, aber bei Ihren Kindern schlagen Sie jetzt besser mal schnell einen anderen Ton an, denn Sie möchten doch bestimmt, dass die Sie auch noch in Zukunft besuchen kommen, oder? Sonst sitzen Sie hier in
einigen Jahren ganz alleine mit Ihrer Frau an Weihnachten und fragen sich, was denn schiefgelaufen ist.«
So - Ende der Durchsage! Das musste einfach raus!
Da kriegt man ja Würfelhusten bei solch einem Kotzbrocken.
Wür|fel|hu|sten
. Gen. –s Pl. – (selten Plural)
(umgangssprachlich) für Erbrochenes
Ich stehe auf. Mir ist es wurscht, was der gute Herr zu meinem Monolog zu sagen hat, ob er mich nun rauswirft, mir den Kontakt mit seiner Tochter verbietet oder sonst was. Ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden, was ich mir gefallen
lasse und was nicht.
Wenn sich sonst keiner traut, diesem Deppen die Meinung zu geigen, dann muss ich das eben tun.
Im Haus verlaufe ich mich fast, so viele - größtenteils ungenutzte - Zimmer befinden sich hier. Cleo ist im ersten Stock im Badezimmer.
»Cleo? Kann ich rein?«
Sie öffnet die Tür. Ihr Make-up ist verlaufen, ihre Nase ganz rot. Ich mag es nicht, sie so zu sehen. So unglücklich.
»Ach, komm her!«, sage ich und nehme sie in den Arm.
Sie fängt wieder an zu schluchzen.
»Es kann dir doch egal sein, was Gargamel da draußen von dir denkt! Oder?«
Sie zuckt mit den Schultern. Klar, ich kann das verstehen. Wir bleiben halt ein Leben lang Kinder unserer Eltern. Und von denen wollen wir nun mal geliebt werden.
»Ich bin so wütend!«, bringt sie hervor. »Ich... ich... ich würd’ ihm am liebsten so viele Sachen sagen.«
»Dann tu’s doch!«
»Ach, als wenn das was bringen würde. Wenn man ihm was sagt, spielt er erst mal monatelang die beleidigte Leberwurst. Und beim nächsten Mal wird’s dann noch schlimmer. Das war heute
bestimmt die Retourkutsche für letztes Weihnachten, wo ich ihm auch schon mal ein paar Takte gesagt habe.«
Nun bin tatsächlich ich derjenige, der laut seufzt.
»Ich sag dir jetzt mal was: Wenn du darauf wartest, dass dein Vater dich glücklich macht, dann wirst du darauf eine lange, lange Zeit warten müssen. Dein Vater scheint irgendein
Problem mit sich selbst zu haben, um das sich geschulte Psychologen einmal eingängig kümmern müssen. Aber solange er mit sich selbst nicht im Reinen ist, wird er es auch mit niemand anderem sein.«
Cleo sieht mich an, als hätte ich ihr gerade erklärt, wie die Welt funktioniert. »Ich glaube, das hast du ziemlich treffend erkannt«, sagt sie
schließlich.
»Na also, dann lass dich von dem Deppen doch nicht so runtermachen!«
»Aber es tut halt so weh. Jedes Mal. Ich weiß gar nicht, was ich ihm getan habe. Warum ist das, was ich mache, nie genug?«
»Aber verstehst du es denn nicht? Nichts ist ihm genug. Der wird immer unzufrieden sein. Egal, was ist«, sage ich.
Cleo nickt.
»Also mach dein Glück nicht davon abhängig, was der von dir denkt.«
Cleo schnäuzt die Nase. »Findest du auch, dass ich zu dick bin?«
»Sag mal, hast du mir gerade nicht zugehört?«
»Jetzt sag schon!«
»Nein, ich finde nicht, dass du zu dick bist! Jetzt zufrieden?«
Sie nickt.
»Komm!«, sage ich und halte ihr die Hand hin. »Ich hab da unten gerade ein paar Brücken abgefackelt. Ich glaube, es wäre
jetzt ein guter Augenblick, um uns zu verabschieden!«
Cleo grinst. »Oh je! Was hast du ihm gesagt?«
»Nichts, was nicht schon längst fällig gewesen wäre.«
»In our times of trouble, we only had ourselves, nobody else«, singt eine Frauenstimme treffenderweise gerade, als wir wieder ins Wohnzimmer kommen.
»Wir gehen jetzt!«, verkündet Cleo kurz, verabschiedet sich von ihrem Bruder, ihrer Mutter, von Daniela und dann... kurz bevor sie schon wieder aus dem
Wohnzimmer heraus ist, dreht sie sich noch einmal um, geht auf ihren Vater zu und nimmt sich die Kuchenplatte mit der restlichen Rüblitorte. Ka-Ching!
Ich könnte sie knutschen. Hier und jetzt!
Deshalb tu ich’s auch.
Und ein Stück Rüblitorte könnte ich auch noch vertragen. Aber davon haben wir ja jetzt noch genug.