Leseprobe
Klugscheißer Deluxe
5. Graupel und Sophie Marceau
Heute Morgen bin ich ohnehin schon mit dem falschen Fuß aufgestanden. An solchen Tagen bringt mich jede Kleinigkeit auf die Palme. Ich warte im Grunde nur darauf, dass ich etwas höre oder lese, über das ich mich aufregen kann. Lange muss man da nicht warten!
So machte WDR 5 heute Morgen Werbung für eine ihrer Veranstaltungen, die mit den Worten endete: Tickets überall dort, wo es Tickets gibt. Was ist das bitte für eine Aussage? Haben sie vielleicht vor, dementsprechend künftig die Wettervorhersage zu gestalten? Regen überall dort, wo Wasser vom Himmel fällt, hörte ich die freundliche Stimme schon in meinem Kopf.
Wenige Minuten später folgte tatsächlich die Wettervorhersage, die ich im April wenigstens einmal gern hören würde, ohne das Wort Graupel vernehmen zu müssen. Dabei gehe ich stark davon aus, dass die wenigsten Menschen überhaupt wissen, was Graupel ist.
Grau|pel
f.; Gen. –; Pl. -n (meist Plural);
weiche Hagelkörner, sollten diese allerdings einen kleineren Durchmesser als einen Millimeter haben, spricht man von Griesel
Mehr als einmal habe ich Menschen von »Graupe« reden hören, was (hoffentlich bekanntermaßen) Gerste- oder Getreidekörner sind. Ich frage mich, was diese Menschen bei der Wettervorhersage denken: Och nee, da fällt heute wieder Getreide vom Himmel. Das wird aber ganz schön ungemütlich!
Wenn ich mich morgens bereits bei den Nachrichten derart aufrege, weiß ich, dass es ein anstrengender Tag wird. Ich bin also gespannt, was mein zweiter Unitag für mich bereithält.
»Alles fit im Schritt?«, begrüßt Lennart mich in abgedroschener 2000er-Manier, als wir uns um kurz vor zehn auf dem Gottesweg treffen.
»Lustiger Spruch«, sage ich. »Warte, ich poste den mal gerade auf MySpace und StudiVZ.«
»Haha, witzig. Heute morgen ’nen Clown gebumst?«, kontert Lennart.
Nun muss ich doch grinsen. Auch letzte Woche hat Lennart schon mit Retro-Redensarten geglänzt, die Nostalgikern wahre Glücksgefühle entlockt hätten. Ständig verabschiedet er sich mit Grußformeln wie Auf Wirsing und Ciao, Kakao! Ich frage mich, ob er sich diese ganzen Sprüche als Kind irgendwo aufgeschrieben hat und dachte: Och, wenn ich anfange zu studieren, kann ich die Sprüche doch alle mal nonstop raushauen.
Auf den Gängen der Uni ist es wieder brechend voll. Hier herrscht zwischen den Seminaren nämlich immer Rushhour, weil jeder megaschnell zu seinem nächsten Seminar, kurz auf die Toilette oder in die Mensa muss.
Abgekämpft kommen wir dementsprechend in R34 an, der mit seinen ansteigenden Reihen und Klappsitzen wie ein typischer Hörsaal aussieht. Wieder einmal ein Englischseminar. Phonetics and Pronunciation. Der Dozent, Professor Krüger, sieht unsagbar spaßbefreit aus: In seinem piekfeinen Anzug samt Einstecktuch und Krawatte, glattrasiert mit einfältiger Spießer-Frisur, Designerbrille und seiner Luxusaktentasche sieht der Endvierziger eher wie ein Versicherungsvertreter aus.
»Zunächst einmal werde ich mir ein Bild davon machen, wie gut Ihre Aussprache ist, um bestimmen zu können, an welchen Punkten Sie noch arbeiten müssen. Hierzu werden Sie gleich jeweils einen Abschnitt laut vorlesen. In den kommenden Wochen erwerben Sie das nötige Know-how, um diese Stellen auch metasprachlich benennen zu können. Hierfür werden Sie die Zeichen des Internationalen Phonetischen Alphabets, kurz IPA, lernen und sollten zum Abschluss in der Lage sein, einen Text, den ich vorlese, fehlerfrei zu transkribieren«, trägt Professor Krüger seine Einleitung vor, die ziemlich auswendig gelernt klingt.
Der Reihe nach müssen wir einen kurzen Text vorlesen, den der Prof auf die Leinwand projiziert. Danach kommentiert er besonders wichtig, welche Fehler beim Vorlesen gemacht wurden. »Beim Wort heart klingt es, als würden Sie statt des Vokals fast schon einen Diphthong sprechen.« – »Auch hier große Schwächen in den Vokalen.« – »Die Aussprache Ihres th ist fast schon inakzeptabel.«
Bei jeder Rückmeldung spielt er sich enorm auf. Sicher, ich gebe ihm recht, dass Englischlehrer ein gewisses Sprachniveau aufweisen sollten (ich erinnere mich da an meine Lehrerin in der Unterstufe, deren Aussprache wirklich eine Zumutung war), aber ich finde, dass der gute Krüger viel zu viel Freude dabei zeigt und es deutlich übertreibt. Abgesehen davon ist die Aussprache der meisten nicht schlecht. Mit jedem Kommentar seinerseits werden die Studenten verärgerter. Selbst Lennart, der anfangs eher nervös schien, weil er vermutlich Angst hatte, dass seine Aussprache zu sehr kritisiert würde, ist inzwischen nur noch genervt.
Jeder von uns bekommt einen anderen Textabschnitt zum Vorlesen. Nachdem Lennart seinen Abschnitt vorgelesen hat, folgt Krügers vernichtende Kritik: »Herrje, wo soll ich denn da beginnen? Nicht nur, dass Ihre Intonation durchgehend deutsch klingt, Sie sprechen viele Wörter auch völlig falsch aus. Beim Wort doubt wird das B selbstverständlich nicht gesprochen. Ich dachte, so etwas würde man in der Grundschule lernen.«
Ich schaue kurz in Lennarts Richtung. Der kocht vor Wut. Ich kann es ihm nicht verübeln, wenngleich Krüger in Ansätzen schon recht hat. Lennart hat tatsächlich manche Wörter falsch ausgesprochen.
Der Krüger klickt auf seine Fernbedienung und ruft den nächsten Leseabschnitt auf. Dabei sieht er mich auffordernd an. Ich beginne zu lesen und bereits nach wenigen Wörtern höre ich wieder erstauntes Raunen im Plenum.
Als ich zu Ende gelesen habe, folgt augenblicklich Krügers Bewertung: »Das ist bei Weitem der jämmerlichste Versuch, mit einem vorgetäuschten Akzent wie ein Amerikaner zu klingen, der mir jemals untergekommen ist. Äußerst fadenscheinig und blamabel.«
What the helicopter? Was ist denn das für ’n Vogel? Der hat doch seinen eigenen Knall nicht gehört!
Nun bin ich derjenige, in dem es brodelt. Ich muss mich echt zusammenreißen, um der Pissflitsche nicht meine Meinung zu geigen.
Piss|flit|sche
f.; Gen. –; Pl. -n;
eine Beleidigung, für Menschen, die einem unsympathisch sind; zusammengesetzt aus den Wörtern Flitsche (ugs. für Schleuder) und Pisse (derb für Urin) – siehe auch: Fäkalsprache (umgangssprachlich gelegentlich als Fickalsprache verschrien)
»Willst du dir das etwa gefallen lassen?
«, zischt Lennart mir zu.
Natürlich nicht. Aber schließlich habe ich mir selbst ein Versprechen gegeben. Deshalb ignoriere ich Lennarts Frage und versuche, mich zu besänftigen, indem ich mir innerlich gut zurede: Du wolltest dich nicht aufregen. Du wolltest dich nicht mit deinen Dozenten anlegen. Du wolltest dir nicht wieder deine Zukunft vermasseln. Mach einfach eine Faust in der Tasche und hak das Ganze ab!
Lennart glaubt aber offenbar, sich für mich einsetzen zu müssen. Oder vielleicht will er auch nur seinem eigenen Frust Luft machen. »Der Akzent ist nicht gefakt«, ruft er dem Dozenten zu. »Timo ist Muttersprachler. Tja, Scheiße, was?«
Der Krüger scheint allerdings wenig beeindruckt. Wenn überhaupt, wird sein Gesichtsausdruck noch arroganter. »Das bezweifle ich doch sehr«, sagt er, direkt an mich gerichtet. »Wie heißen Sie?«
Ich stoße einen Seufzer aus. Jetzt geht das wieder los.
»Timo Seidel«, sage ich.
Augenblicklich bricht nicht nur der Krüger in Gelächter aus, sondern auch viele der Studenten.
»Freilich! Ich bin mir sicher, dies ist ein gängiger Name in den USA.«
Noch mehr Gelächter.
Ich frage mich, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich hier zu verteidigen. Trotzdem sage ich: »Mein Vater war Amerikaner, aber meine Eltern haben nie geheiratet.«
Selbst wenn es ziemlich peinlich klingt, sich so zu rechtfertigen. Aber was ist die Alternative? Gar nichts sagen? Das sähe doch so aus, als wäre ich beim Lügen erwischt worden.
»Ihr Vater war also Amerikaner«, amüsiert sich der Krüger weiter. Das Wort war zieht er merkwürdig lang, was mir irgendwie einen Stoß versetzt. »Und Ihre Eltern haben nie geheiratet. Wie praktisch! Sind Sie denn in Deutschland geboren?«
Ich nicke widerwillig.
»Dann sind Sie auch kein Amerikaner!«, stellt er fest.
»Ich habe nie behauptet, Amerikaner zu sein«, verteidige ich mich und bereue es im selben Augenblick, mich überhaupt auf eine Diskussion eingelassen zu haben.
»Ihr Sitznachbar hat das doch gerade behauptet.«
»Aber ich nicht.«
»Wieso behauptet er dann so etwas?«
Lennart schweigt. Na, herrlich! Also bleibt mir nichts anderes übrig, als für ihn zu antworten: »Wahrscheinlich wollte er nur sagen, dass Englisch eine meiner Erstsprachen ist.«
»Sind Sie denn in den USA aufgewachsen?«
»Nein, bin ich nicht«, sage ich, inzwischen hörbar gereizt.
»Dann ist Deutsch Ihre Erstsprache, mein lieber Herr! Und nicht Englisch! Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Ihr Vater Ihnen vielleicht einmal ein paar Brocken Englisch beigebracht hat, als Sie noch klein waren.«
Ich gebe auf. Es hat keinen Sinn, mit diesem aufgeblasenen Fatzke zu diskutieren. Soll er von mir aus glauben, was er will. Ich sage nichts mehr! Am liebsten würde ich den Kurs sofort hinschmeißen, aber bei meinem Glück gibt es wahrscheinlich hierzu keine Alternative, sodass ich spätestens im nächsten Semester wieder hier säße.
»Wusste ich es doch«, kommentiert der Krüger selbstgefällig mein Schweigen.
Triumphierend fährt er mit seinem Unterricht fort. Lange dauert es allerdings nicht, bis er sich wieder mir zuwendet.
»Bei neuen Fachtermini notieren Sie sich bitte immer die entsprechende englische Übersetzung, die ich Ihnen zu gegebener Zeit jeweils nennen werde. Wobei, an und für sich kann Ihnen die ja auch unser Amerikaner mitteilen.« Er macht eine kurze Pause und schaut dabei in meine Richtung. »Also, ich erwähnte gerade den Erstspracherwerb. Als jemand, der mit Englisch aufwuchs, können Sie mir sicherlich
beantworten, was dies auf Englisch heißt.«
Ich seufze. Ich weiß zwar, was es heißt, aber ich weiß auch, wie dieses Spielchen hier weitergeht. Der Prof wird mir eine Vokabelfrage nach der nächsten stellen, bis ich diese nicht beantworten kann. Andererseits finde ich es genauso albern, jetzt den Mund zu halten. Also sage ich, so ruhig, wie es nur geht: »First language acquisition.«
Der Krüger ist sichtlich enttäuscht, dass ich den Begriff wusste, lässt sich allerdings nichts anmerken.
»In der Tat«, fährt er fort. Es dauert nicht lange, bis ich wieder als Wörterbuch herhalten muss. Wie schon vorausgesagt. Auch die nächsten beiden Wörter kenne ich. Dann allerdings schießt er sich auf linguistische Fachbegriffe ein, von denen ich zum Teil nicht einmal im Deutschen weiß, was sie bedeuten. Nach weiteren vier Vokabeln, die ich nicht beantworten kann, konstatiert er mit süffisanter Miene: »So viel dazu, dass Englisch Ihre Erstsprache ist.«
Ich sage nichts mehr. Stattdessen meldet sich ein Student aus der hinteren Reihe: »Wir haben es langsam begriffen, dass Sie mehr Vokabeln kennen als der Typ da vorne. Können wir das kleine Machtspiel jetzt mal beenden, und Sie fahren mit Ihrem Seminar fort? Ansonsten gehe ich mich gleich beim Dekan über Sie beschweren!«
Ein Raunen geht wieder durch den Raum, während sich in Krügers Gesicht und an seinem Hals hektische Flecken bilden. Für einen kurzen Moment befürchte ich schon, er könnte explodieren – dass er den anderen rauswirft oder mich oder uns beide. Aber dann wird er sich offensichtlich der brenzligen Situation bewusst und fährt tatsächlich kommentarlos mit seiner Vorlesung fort. So habe ich zumindest für den Rest des Seminars meine Ruhe.
Auf dem Weg nach draußen klopfen mir einige Studenten auf die Schulter. Ebenso mein Unterstützer von vorhin.
Auch Lennart entschuldigt sich: »Ey, sorry, dass ich dich da reingerissen habe, aber ich …«
»Ist schon gut«, unterbreche ich ihn.
»Sicher?«
»Sicher«, bestätige ich. Ich weiß, dass er das nicht extra gemacht hat, dass meine Vorgeschichte nun mal speziell ist und dass ich mich dafür immer wieder rechtfertigen muss. Geschenkt.
»Komm, lass uns kurz was zu essen holen, bevor es weitergeht.«
Auf den Gängen herrscht wieder Rushhour und das Studentenhalma kann beginnen.
Stu|den|ten|hal|ma
n.; Gen. -s;
(analog zum Brettspiel Halma, bei dem ein Spieler seine Steine möglichst schnell auf die gegenüberliegende Seite bringen muss); Szenario, welches sich auf den Gängen von Universitätsgebäuden abspielt, in dem Studierende versuchen, möglichst schnell von einem Seminarraum zum nächsten zu gelangen, was aufgrund von Überfüllung der Universitäten kein leichtes Unterfangen darstellt
Eigentlich würde es sich lohnen, über die Lautsprecher Verkehrsnachrichten zu senden. Gleich halb zwölf, hier ist die Übersicht mit allen Staus ab 30 Meter Länge: auf dem Gang, ausgehend von Hörsaal H1 in Richtung Mensa, 45 Meter stockend, ebenso im ersten Stock, ausgehend von Raum 12 in Richtung Toiletten, 20 Meter Stop-and-go. Zudem erbitten wir erhöhte Aufmerksamkeit vor Hörsaal H2, hier liegen ungesicherte Psychologiebücher auf dem Boden. Wir wünschen allen einen guten Marsch.