Keine sieben Kilometer Luftlinie entfernt hegte Isabelle Neumeier ihrerseits große Erwartungen an ihr heutiges Date. Es war das erste seit geraumer Zeit. Eigentlich hatte sie nicht zusagen wollen, war dann aber doch von Simons offener Art — und seinen Fotos — so beeindruckt gewesen, dass sie spontan seine Einladung akzeptiert hatte.
Außerdem, was konnte an einem Donnerstagabend in einer gut besuchten American Sportsbar mitten in der Kölner Innenstadt schon passieren?
Allerdings war Simon noch nicht da, als sie am vereinbarten Treffpunkt am Rudolfplatz eintraf. Das gab definitiv schon einmal Minuspunkte! Mit jeder Minute, die verging, fühlte sie sich unwohler. Wenn der mich jetzt versetzt, lass ich mich nie wieder auf so etwas ein!, beschloss Isabelle, während sie immer wieder ein paar Meter hin- und herging.
Sie wollte gerade aufbrechen, als Simon schließlich doch noch mit fast fünfzehnminütiger Verspätung eintraf. Immerhin sah er abgehetzt aus und entschuldigte sich mehrfach für seine Unpünktlichkeit.
»Ist nicht schlimm«, beschwichtigte Isabelle, »das obligatorische akademische Viertel halt.«
»Hä?« Simon warf ihr einen verdatterten Blick zu. »Versteh ich nicht!«
In Wirklichkeit sah er tatsächlich noch besser aus als auf seinen Profilfotos, das musste sie durchaus zugeben. Fast schon ein wenig zu gut, wie eines dieser Stockfotos, die sie auf der Arbeit verwendete, auf denen die Menschen irgendwie alle gleich perfekt aussahen.
»Na, das akademische Viertel, so wie an der Universität früher, als alle Vorlesungen immer eine Viertelstunde später anfingen als ausgewiesen«, erklärte sie.
»Sorry, ich war nie auf der Uni.« Simon hob entschuldigend beide Hände, weswegen Isabelle sich unwillkürlich ein wenig elitär vorkam — einfach anzunehmen, dass jeder studiert hatte, so wie sie. In seinem Profil hatte schließlich auch Sportler sucht nette Frau gestanden und nicht Akademiker sucht Literaturwissenschaftlerin.
»Wollen wir?« Simon deutete in Richtung Hohenzollernring.
Auf dem Weg dorthin entgingen Isabelle die Blicke der vorbeigehenden Frauen nicht, die Simon auf sich zog. Dabei hatte sie sich ebenfalls richtig in Schale geworfen. Sie trug ein schlichtes Kleid in Königsblau, das eng anlag und schon wegen seiner leuchtenden Farbe einiges hermachte. Leider löste es bei den männlichen Passanten nicht ebenso schmachtende Blicke aus.
Im Joe Champs bekamen sie dann einen netten Zweiertisch an der Fensterfront zugewiesen. Zudem tönte John Mayer aus den Lautsprechern, als Isabelle sich gerade hinsetzte. Last Train Home — einer ihrer Lieblingssongs.
»Du siehst toll aus!«, eröffnete Simon das Gespräch mit einem Kompliment, als auch er saß.
Eventuell wurde das ja doch noch ein super Abend! Vielleicht war Simon ihr letzter Zug nach Hause? Gott, sie hasste es, wenn ihr Gehirn ihr solch abgedroschene Metaphern unterjubelte. Für das Kompliment bekam Simon aber wieder einen Pluspunkt, den sie mit seinem bisherigen Sollsaldo verrechnete.
»Danke«, sagte sie aufrichtig. Dann hatte sich der Aufwand vorhin im Badezimmer wenigstens gelohnt. Schon allein die ganze Föhnerei immer!
»Also, wenn ich mal so direkt mit der Tür ins Haus fallen darf, wie kommt es, dass eine so hinreißende Frau wie du noch Single ist?«
Ein weiterer Pluspunkt.
»Ich weiß es nicht«, gab Isabelle zurück und wusste es wirklich nicht, denn sie konnte nicht alles auf Henning schieben. Mit dem war sie seit zwei Jahren immer wieder mal zusammen gewesen. Weil er sich allerdings nie binden wollte, hatte sie vor zwei Monaten einen Schlussstrich gezogen. Aber davor? Für die Zeit vor Henning hatte sie keine richtige Erklärung.
»Mir ist wohl einfach noch nicht der Richtige begegnet«, resümierte sie schließlich. »Und wie sieht es bei dir aus?«
»Ach, wohl dasselbe. Ich habe in letzter Zeit immer irgendwie Pech gehabt. Meine Letzte war zum Beispiel total verrückt, so richtig loco, aber das merkt man ja immer erst später.«
Isabelle überlegte, ob sie Ex-Freunde hatte, die sie als verrückt bezeichnen würde. Eigentlich nicht. Dafür fielen ihr aber mindestens zwei ein, die unter enormen Bindungsängsten litten.
»Was machst du denn so beruflich?«, wollte Simon wissen.
»Ich arbeite in einer Designagentur und erstelle dort Buchcover für Verlage«, berichtete Isabelle stolz.
»Also ein Bürojob. Cool, cool.« Eine weitere Frage folgte nicht, was Isabelle sehr bedauerte, denn sie fand, dass sie einen der tollsten Berufe der Welt hatte.
Jetzt war sie wohl an der Reihe zu fragen. »Und du? Was machst du beruflich?«
»Ich bin Fitnesstrainer oder Personal Trainer, wie man heutzutage sagt.«
Er war tatsächlich sehr trainiert, damit man das auch deutlich sah, trug er ein extrem enges Shirt mit tieferem Ausschnitt als ihr Kleid.
»Oh, das klingt interessant. Da triffst du bestimmt jede Menge Leute«, versuchte sie sich immerhin ein wenig für seinen Beruf zu begeistern.
»Ja, total. Das ist auch das Coole an meinem Job. Man lernt immer neue Leute kennen und ist die ganze Zeit in Bewegung. So kann man nicht einrosten. Und du?«
Isabelle hatte ihm ihren Beruf doch schon genannt. Hatte er den schon wieder vergessen?
Aber da schob Simon hinterher: »Magst du Sport?«
»Nicht wirklich. Leider!«, rechtfertigte sie sich automatisch. »Ich weiß, ich sollte mich mehr bewegen, schon allein, weil ich die ganze Zeit im Büro sitze, aber irgendwie kann ich mich nach Feierabend nicht dazu aufraffen …«
Diese Reaktion lösten sportbegeisterte Menschen immer bei ihr aus. Schuldgefühle und Rechtfertigungszwang.
»Keine Sorge!«, beruhigte Simon sie. »Ich gehöre nicht zu denen, die direkt bei jedem Menschen den BMI ausrechnen müssen.«
»Puh! Glück gehabt!« Isabelle atmete übertrieben vor Erleichterung aus.
»Na ja, aber Spaß macht es schon! Ist ja auch mein Beruf.« Simon griff wahrhaftig nach seinem Handy. »Also, einunddreißig Jahre, das stand ja schon in deinem Profil. Und dann schätze ich achtundsechzig Kilo bei einem Meter fünfundsechzig, oder?«
Simon sah aber gar nicht auf, sondern tippte nur fleißig auf seinem Handydisplay herum, während Isabelle nicht wusste, worüber sie mehr schockiert war, über die Tatsache, dass er wirklich — wenige Minuten nachdem sie sich kennengelernt hatten — in ihrer Anwesenheit ihren Body-Mass-Index errechnete, oder darüber, dass er ihr Gewicht und ihre Größe fast auf das Kilogramm und den Zentimeter genau einschätzen konnte.
»Das macht dann einen BMI von 25«, konstatierte Simon, immer noch auf sein Display stierend. »Das ist gerade noch so im Normalbereich.« Er tippte weiter. »Aber sobald du … ja, genau, habe ich mir gedacht … sobald du noch drei Kilo zunimmst, gilt das schon als übergewichtig.«
Isabelle hätte jetzt nicht wenig Lust, einen Persönlichkeitstest aus dem Internet auszudrucken, den er auf der Stelle ausfüllen müsste. Dann würde sie alles auswerten, auf ihr Handy schauen und sagen: Tja, wie ich gedacht habe, schon recht deutlich im Arschlochbereich!
Sie überlegte, ob sie aufstehen und das Restaurant einfach kommentarlos verlassen sollte. Verdient hätte es dieser aufgeblasene Muskelfatzke durchaus.
Simon aber schien ihren Unmut zu spüren. »Also, nimm mir das jetzt nicht übel! Das ist eine Berufskrankheit, so was mache ich bei allen Menschen. Keine Panik! Du siehst toll aus!«
Isabelle war zumindest ein wenig besänftigt, denn so, wie er es sagte, klang es immerhin aufrichtig. Trotzdem fand sie sein Verhalten einfach nur übergriffig und zog die Punkte wieder ab.
Eine Kellnerin brachte zwei Speisekarten. »Guten Abend, kann ich euch schon mal was zu trinken bringen?«
»Also, wenn es nach mir geht, können wir auch direkt schon was zu essen bestellen. Ich hab nämlich ’nen Bärenhunger!«, tönte Simon und schaute Isabelle dabei erwartungsvoll an.
Was soll’s?, dachte diese. Wenn der Abend weiter so desaströs verläuft, ist er wenigstens umso schneller vorbei.
»Klar«, flötete sie daher.
»Okay, also ich nehm eine Cola«, legte Simon direkt los. »Einmal die French Fries und einen Cheeseburger — aber ohne Käse. Heute ist mein Cheat Day.«
»Also ein Hamburger?«, fragte die Kellnerin leicht irritiert.
»Nein! Einen Cheeseburger ohne Käse!«
Hilflos schaute sie von ihrem Block auf, um zu prüfen, ob Simon sich einen Scherz erlaubte. Der war jedoch bitterernst.
Am Nachbartisch kicherten zwei junge Frauen, die Simons Bestellung offensichtlich amüsiert verfolgt hatten.
»Aber ein Hamburger ist doch ein Cheeseburger ohne Käse!«, erklärte die Bedienung.
»Ja, genau, ich will einen Cheeseburger ohne Käse.«
»Okay! Einen Cheeseburger ohne Käse also.« Kapitulierend schrieb sie die Bestellung auf ihren Notizblock. »Und für die Dame?«
Am liebsten hätte Isabelle geantwortet: Ein anderes Date, bitte! Stattdessen bestellte sie einen Caesar Salad und zur Sicherheit noch extra Knoblauchbrot, denn für sie stand jetzt bereits fest, dass sie heute allein nach Hause gehen und Simon nicht wiedertreffen würde.
Als Tony später nach Hause kam, wartete da niemand auf ihn. So wie gestern und vorgestern und vorvorgestern und letzte Woche und letzten Monat. So wie immer. Seit neun Jahren lebte er jetzt schon allein in dieser Fünfunddreißig-Quadratmeter-Wohnung.
Die Vorstellung von einer festen Partnerin hatte er längst begraben. Welche Frau hatte schon langfristiges Interesse an einem Mann, der ihr keinerlei finanzielle Sicherheit bieten konnte? Tony kam gerade so selbst über die Runden. Ein Auto, Luxusartikel oder gar ausschweifende Urlaube konnte er sich nicht leisten. Das Geld reichte kaum für eine vernünftige Grundversorgung.
Erschöpft von diesem Abend, vor allem von Sunny, ließ er sich auf sein Sofa fallen.
Das würde wohl immer so bleiben, dass er nach Hause kam und da war niemand, der ihn begrüßte. Niemand, der sich auf ihn freute.
Er war jetzt einunddreißig Jahre und hatte sich damit abgefunden, keine Familie zu gründen. Das war zwar schade, aber es war okay. Er hatte ja seine gelegentlichen Kurzzeitbeziehungen, bei denen er von vornherein klarmachte, dass er an nichts Ernstem interessiert war. Es gab genügend Frauen, die ebenfalls auf solch ein kleines Abenteuer Lust hatten. Meistens hielt es ein paar Wochen, manchmal auch ein halbes Jahr oder länger.
Wie gesagt, mit der Tatsache, keine eigene Familie zu haben, hatte er sich längst abgefunden, aber immer wieder in diese leere Wohnung zu kommen, damit wollte er sich einfach nicht abfinden.
Wieso hole ich mir nicht einen Hund?, dachte Tony. Er hatte seit jeher einen haben wollen, aber seine Mutter war dagegen gewesen. Als er zu Hause ausgezogen war, hatte er diese Idee dann jahrelang aus den Augen verloren, aber seit einiger Zeit war dieser Gedanke immer wieder aufgeploppt.
Wieso eigentlich nicht?
Tatsächlich nur zwei Kilometer Luftlinie entfernt betrat auch Isabelle ihre einsame Wohnung.
Auf dem Wohnzimmertisch hatte sie etliche Teelichter aufgestellt, die sie jetzt nutzlos anstarrten. Morgen würde sie die wieder in den Schrank stellen, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens versauerten. In der Regel hatte sie nur einmal im Jahr die Muße, es sich zu Hause so richtig gemütlich zu machen.
Isabelle legte die Füße auf den Couchtisch und ließ ihr heutiges Date Revue passieren. Was für ein Desaster! Ein Highlight hatte das nächste gejagt. Da waren die kostenlose BMI-Berechnung und der käselose Cheeseburger nur der Anfang gewesen.
Zum Schluss hatte sie darauf bestanden, ihr Essen selbst zu zahlen, trotz Simons Angebot, sie einzuladen. Nie und nimmer wollte sie diesem Vollidioten etwas schuldig sein!
»Hey Siri, spiel Musik!«, instruierte Isabelle in den Raum hinein, damit die Stille nicht mehr ganz so unerträglich war.
Die kleinen, bunten Kugeln in ihrem Wohnzimmer spielten augenblicklich Musik.
I feel lonely, lo-lo-lo-lo-lonely, ertönte die Stimme von Sasha zu Neunzigerjahre-Reggae-Pop-Tönen.
»Sehr witzig!« Isabelle verdrehte die Augen, musste angesichts der Situationskomik aber selbst schmunzeln. Der Kosmos hatte Humor!
Allerdings wünschte sie sich jetzt schon, dass jemand neben ihr säße, an den sie sich kuscheln könnte. Sicherlich nicht Simon. Auch nicht Henning. Das Thema war durch, obwohl sie zugeben musste, dass sie hier bereits schöne Abende zusammen auf dem Sofa verbracht hatten.
So!, beschloss Isabelle auf einmal. Wer sagte denn, dass da ein Mann sein musste, mit dem sie abends kuscheln konnte? Jetzt reicht’s! Ich hol mir einen Hund!