Leseprobe



Klugscheißer Supreme


12. Wartezeiten, Wartezimmer und Wärmflaschen
Es hat mich erwischt. Vollkommen erwischt. Seit heute Morgen habe ich Husten, Schnupfen, Halsschmerzen, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Augenschmerzen, Nackenschmerzen, Fingerschmerzen, Zehenschmerzen, Brustwarzenschmerzen, Wimpernschmerzen, Ohrläppchenschmerzen. Alles auf einmal. Falls das Internet recht hat, habe ich Krebs im Endstadium und noch circa dreißig Tage zu leben. Es geht zu Ende!
Wim|pern|schmer|zen f.; Gen. –; Pl. –; von Männern eingebildete Schmerzen ohne pathologische Grundlagen, vor allem an Körperteilen ohne Schmerzrezeptoren
Daniela amüsiert sich königlich und meint, es gäbe nichts Unterhaltsameres als kranke Männer. Na, die hat gut lachen, während ich hier im Sterben liege!
Notgedrungen muss ich mich wohl in der Schule krankmelden. Gerade jetzt am Anfang macht das natürlich überhaupt keinen guten Eindruck! Außerdem hätte ich diese Woche mit meiner Klasse für die Lehrprobe üben müssen.
Na ja, kann man nichts ändern. Ich sehe Judith Jürgens vor meinem geistigen Auge und höre ihre Stimme. Na toll, jetzt kommen auch noch Halluzinationen dazu!
Um Punkt 8:00 Uhr rufe ich bei Danielas Hausarzt an. Ich selbst habe nämlich keinen, weil ich normalerweise nie krank werde.
Es ist besetzt.
Ich versuche es wieder.
Es ist besetzt.
Ich versuche es noch einmal.
Es ist besetzt.
WUAAAH! Ich könnte ausflippen, versuche es aber weiter. Ohne Erfolg!
Um 8:12 höre ich dann endlich ein Freizeichen.
Willkommen in der Hausarztpraxis Doktor Berlingen. Benötigen Sie eine Überweisung? Drücken Sie bitte die 1. Möchten Sie mit uns persönlich sprechen? Drücken Sie bitte die 2.
Ich drücke die 2.
Unsere Leitungen sind momentan leider belegt. Möchten Sie auf unseren Anrufbeantworter sprechen? Drücken Sie bitte die 1. Möchten Sie mit uns persönlich sprechen? Drücken Sie bitte die 2.
Ich drücke die 2. Wann hat eigentlich dieser Irrsinn angefangen, dass man zunächst einmal zwanzig Minuten mit einem Computer kommuniziert?
Unsere Leitungen sind momentan leider belegt. Geht es um ein generelles Anliegen? Drücken Sie bitte die 1. Möchten Sie einen Termin vereinbaren? Drücken Sie bitte die 2.
Ich drücke die 2.
Sie möchten also einen Termin vereinbaren. Unsere Leitungen sind momentan leider belegt. Handelt es sich bei Ihrer Terminvereinbarung um einen Termin für eine Vorsorgeuntersuchung? Drücken Sie bitte die 1. Sind Sie momentan krank und möchten heute noch vorbeikommen? Drücken Sie bitte die 2.
Ich drücke die 2, wenngleich das Wort möchten nicht wirklich akkurat ist. Ich möchte nicht unbedingt vorbeikommen, eigentlich wäre es mir sogar lieber, wenn der Arzt zu mir käme, aber Hausbesuche sind heutzutage wohl nicht mehr üblich. Nicht einmal bei unheilbarem Männerkrebs.
Män|ner|krebs m.; Gen. –es; hierbei handelt es sich nicht, wie der Name vermuten ließe, um eine Krebserkrankung, sondern lediglich um eine Form der Influenza bei Befall männlicher Erdbewohner
Sie möchten also heute noch in unserer Praxis vorbeikommen. Leider sind wir gerade im Gespäch. Bitte bleiben Sie in der Leitung. Ihr Anliegen ist uns wichtig. Sie werden so schnell wie möglich verbunden. Please hold the line. You will be connected as soon as possible.
8:14 Uhr. Musik ertönt. Christina Aguilera. Als wären die körperlichen Schmerzen nicht schon genug.
Ich warte und warte und warte, Christina schreit und schreit und schreit. Manche Menschen würden es singen nennen. Ich nicht. Nicht einmal, wenn ich gesund bin. Erst recht nicht, wenn es mir hundsmiserabel geht.
8:24 Uhr. Ich fliege aus der Leitung!
»Verflucht beschissene Scheißdreckscheiße!«, brülle ich mein Handy zusammen. Möglicherweise bin ich, wenn ich krank bin, ein wenig gereizter als sonst.
Ich wähle die Nummer der Arztpraxis erneut.
Willkommen in der Hausarztpraxis Doktor Berlingen. Benötigen Sie eine Überweisung? Drücken Sie bitte die 1. Möchten Sie mit uns persönlich sprechen? Drücken Sie bitte die 2.
WAAAAH! Die ganze Grütze geht von vorn los.
Ich drücke die 2. Nächste Ansage. Drücke die 2. Nächste Ansage. Drücke die 2. Nächste Ansage. Drücke die 2. Musik ertönt wieder. Shakira. Gerade wenn man denkt, es könnte nicht schlimmer werden! Wenn die gute Frau ihre Musik wenigstens auch offiziell als eine Kermit-der-Frosch-Parodie bezeichnen würde, könnte ich ja damit leben. Aber nein, angeblich ist das Gesang.
8:27 Uhr. Ich warte und warte und warte, Shakira knödelt und knödelt und knödelt.
Mit jeder Sekunde, die vergeht, habe ich das Gefühl, dass meine Symptome stärker werden. Was ist, wenn ich es gar nicht mehr bis in die Praxis schaffe und es mich vorher bereits dahinrafft? Ob ich lieber direkt die 112 wählen sollte?
Noch während ich versuche, mich zu entscheiden, höre ich auf einmal eine menschliche Stimme: »Hausarztpraxis Doktor Berlingen, Frau Fleischhauer am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, hallo«, krächze ich, »mein Name ist Timo Seidel und ich bin krank.«
Ich überlege noch kurz, ob ich das Wort todkrank hinzufügen soll, aber das klänge vermutlich doch zu dramatisch.
»Ja, das sind viele, die bei uns anrufen!« Sie lacht lauthals über ihren eigenen Witz.
Na, herrlich! Wieder so ein Scherzkeks.
»Kann ich vielleicht heute Morgen noch einen Termin bei Ihnen haben?«
Und dann sagt die Sprechstundenhilfe den von der Menschheit alles gefürchteten Satz: »Ui, das Wartezimmer ist rappelvoll. Da müssen Sie etwas Geduld mitbringen.«
Etwas Geduld mitbringen ist Sanskrit für: Die Wartezeit könnte in etwa dem zeitlichen Umfang eines Medizinstudiums gleichkommen, aber wenn es unbedingt sein muss, kommen Sie ruhig auch noch vorbei!
»Tja, das kann ich wohl nicht ändern. Wann soll ich denn vorbeikommen?«
»Kommen Sie einfach. Es geht der Reihe nach.«
Schön!
Als ich eine Dreiviertelstunde später in der Praxis ankomme, sehe ich, dass Frau Fleischhauer nicht gelogen hat. Nicht nur, dass das Wartezimmer tatsächlich aus allen Nähten platzt, ich habe zudem noch nie solch einen großen Wartebereich gesehen, außer eventuell am Flughafen. Voraussichtlich werde ich diese Arztpraxis also in dreiundzwanzig Tagen wieder verlassen.
»Guten Morgen!«, begrüßt mich die Sprechstundenhilfe viel zu laut. Es ist Frau Fleischhauer in persona, wie ich ihrem Namensschild entnehmen kann. »Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«
»Seidel, ich habe vorhin angerufen. Sie haben mir gesagt, ich solle einfach vorbeikommen.«
Das Telefon klingelt. »Einen Moment bitte!« Frau Fleischhauer hält den Zeigefinger hoch, womit sie ihre verbale Äußerung offensichtlich gestisch unterstreichen möchte. »Hausarztpraxis Doktor Berlingen, Frau Fleischhauer am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?« Ich fasse es nicht. Jetzt hat sie auf einmal Zeit, ans Telefon zu gehen. Ich musste vorhin länger warten als die USA auf die erste weibliche Präsidentin, aber bitte. Ich habe ja Zeit. Ich sterbe hier nur sukzessive.
»Ui, das Wartezimmer ist rappelvoll. Da müssen Sie etwas Geduld mitbringen«, erläutert Frau Fleischhauer wieder einmal. »Okay, dann bis später!« Sie widmet mir wieder ihre Aufmerksamkeit. »Wie war noch mal Ihr Name?«
»Seidel«, wiederhole ich gereizt. »Mein Name ist Seidel.« Ich weiß nicht, wieso sie hier das Präteritum benutzen muss. Schließlich bin ich noch nicht tot. Die Betonung liegt wohl gemerkt auf dem Wort noch!
Nachdem ich meine Personalien abgegeben habe, setze ich mich zu den anderen und warte leidend vor mich hin. Da ich direkt neben der offenen Wartezimmertür sitze, darf ich kostenlos Frau Fleischhauer zuhören, die offensichtlich gerade einige Termine für den Arzt koordiniert.
»Guten Morgen, Praxis Doktor Berlingen, spreche ich mit Frau Immenhaus? … Ja? Schön. Der Herr Doktor würde morgen kurz auf einen Hausbesuch vorbeischauen.«
What the fudge? Also macht er doch Hausbesuche. Wieso habe ich das nicht vorher gewusst?
»Er würde dann als Erstes bei Ihnen vorbeikommen, so um 15 Uhr«, tönt die Sprechstundenhilfe weiterhin laut durch die Praxis. »Wäre das in Ordnung für Sie? Ja? Ist das noch die Alte Escher Straße 43b?«
Das mit dem Datenschutz klappt hier aber auch prima!
Schön zu wissen übrigens, dass die gute Frau Fleischhauer in der Schule den Konjunktiv gelernt hat. Nur leider überkompensiert sie ihn ein wenig.
Eine weitere Patientin schlurft ins Wartezimmer. Schluff, schluff, schluff. Es muss sich um eine schlimme Infektion der Beine handeln, da sie nicht in der Lage zu sein scheint, ihre Füße zu heben. Schluff, schluff, schluff.
Wie gesagt, krank zu sein reizt mich geringfügig.
Nach einer gefühlten Ewigkeit werde ich aufgerufen. Keine Ahnung, wie viel Uhr es inzwischen ist. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, vermutlich später Abend oder früher August. Jedenfalls bestätigt der Arzt, dass es sehr kritisch ist. Er nennt es zwar einen grippalen Infekt, aber in seinen Augen meine ich lesen zu können: Gütiger Himmel! Lange hat er nicht mehr!
Dementsprechend verschreibt er mir auch einen Stapel Medikamente. Nun gut, ich lasse mich auf jede lebensverlängernde Maßnahme ein.



Anmerkung zum Begriff „Männerkrebs“:
Als Autor, aber auch als Linguist, bin ich mir der Macht von Wörtern bewusst. Daher habe ich lange mit mir gehadert, ob ich diesen Wortwitz ins Buch aufnehmen möchte oder nicht, denn Krebs ist eine furchtbare Krankheit, die schon viel zu viele Menschen betroffen hat. Aber ich persönlich finde, dass man viele schlimme Dinge im Leben manchmal nur mit Humor ertragen kann, weswegen ich mich doch für diesen Witz entschieden habe.